5. Oktober 2000

 

Die demokratische Opposition Serbiens (DOS) rief die Bürger auf, sich am 5. Oktober vor dem Bundesparlament zu versammeln, um sich dem großen Stimmenraub zu widersetzen, den die Bundeswahlkommission auf Anordnung Slobodan Miloševićs begangen hat. DOS stellte die ultimative Forderung, dass Slobodan Milošević bis Donnerstag, den 5. Oktober, 15 Uhr, den auf den Bundes-, Präsidentschafts- und Kommunalwahlen am 24. September 2000 geäußerten Willen der Wähler anerkennt. Desgleichen wurde gefordert, dass der Generalintendant, der Chefredakteur und das Redaktionskollegium des Rundfunks und Fernsehens Serbien (RTS) den Rücktritt einreichen, dass RTS die Redaktionspolitik ändert und eine objektive Berichterstattung über die Geschehnisse in Serbien ermöglicht. DOS forderte außerdem, dass alle verhafteten Personen freigelassen werden und dass Steckbriefe und Strafanzeigen gegen diejenigen zurückgezogen werden, die für die Achtung des Wahlwillens der Bürger Serbiens protestierten.

Der Vorsitzende der Bundeswahlkommission Borivoje Vukičević benachrichtigte die Vorsitzenden der Wahlkommissionen der Wahlbezirke, dass für den zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen am 8.Oktober die "Vorbereitungsarbeiten zu Ende geführt worden sind". Vojislav Koštunica, Präsidentschaftskandidat der DOS, forderte Slobodan Milošević auf, die Niederlage im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen zuzugeben, und wies auf die Gefahr des Ausbruchs offener Konflikte in Serbien hin: "Wir können keinen zweiten Wahlgang durchführen, denn damit würden wir Komplizen beim Wählerstimmenraub werden. Der Betrug im ersten Wahlgang kann nicht durch den zweiten, fünften oder wer weiß wievielten annulliert werden."

Seit den frühen Morgenstunden trafen die DOS-Anhänger organisiert aus mehreren Richtungen aus ganz Serbien, angeführt von den DOS-Führern, in Belgrad ein. Gegen 15 Uhr versammelten sich die Bürger auf einer Kundgebung vor dem Parlament der BRJ, und versuchten, in das Parlamentsgebäude hineinzukommen. Eine große Gruppe Menschen drang gegen 15.35 Uhr durch das Fenster in das jugoslawische Parlament ein. Die Polizei konnte unter Einsatz einer großen Tränengasmenge mindestens 200.000 Menschen vom Plateau des Parlaments der BRJ zerstreuen.

Einige Dutzend Bürger drang gegen 16 Uhr in das Bundesparlament ein, während sich die Polizisten, die bis dahin das Gebäude absicherten, zurückzogen. Aus dem rechten Flügel des Parlaments drang dichter, schwarzer Rauch, und fast alle Fensterscheiben des Gebäudes waren zerschlagen. Die Demonstranten demolierten einige Polizeifahrzeuge in der Kosovska Straße hinter dem jugoslawischen Parlament. Während der Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten waren Schüsse aus Schusswaffen zu hören. Der Kommandier der Belgrader Polizei forderte gegen 17 Uhr die DOS-Vertreter zu einem Gespräch auf. Gegen 18 Uhr legten die Angehörigen des Polizeireviers in der Majke Jevrosime Straße die Waffen nieder und schlossen sich den Demonstranten an. Mehrere Dutzend Bürger mit leichten und schweren Verletzungen wurden in das Notfallkrankenhaus eingewiesen.

Die Polizei setzte auch in der Nähe des RTS-Gebäudes Tränengas ein, während ein Bagger sich bis zum Eingang vorschob. Das RTS-Gebäude in der Takovska Straße wurde sodann in Brand gesteckt, und nach 17 Uhr stellte RTS die Ausstrahlung der regelmäßigen Programme ein. Auf allen drei Programmen des Staatlichen Fernsehens wurden Spots, Werbung und auf Band aufgenommene Programme gesendet. Der Fernsehsender Studio B brachte ab Nachmittag regelmäßig Nachrichten über die Geschehnisse auf der Straße. Später, begannen einer nach dem anderen und schließlich alle Fernsehsender über die tatsächlichen Vorkommnisse auf den Belgrader Straßen zu berichten. Das einzige elektronische Medium in Belgrad, das vor und während des 5. Oktober frei und professionell über die Post-Wahlkrise und die Proteste informierte, war Radio Index (audio MP3, 1:40, 264 KB).

Der neugewählte Präsident der BRJ, Vojislav Koštunica, wandte sich am Abend von der Terrasse des Belgrader Stadtparlaments an die Bürger und sodann über das Fernsehen RTS. Im Laufe des Abends wurden auch Gründungssitzungen der neuen Zusammensetzung des Belgrader Stadtparlaments . abgehalten. Hunderttausende Menschen verbrachten die ganze Nacht im Belgrader Stadtzentrum, feierten den Sieg, aber bangten auch vor dem eventuellen Einschreiten der Armee und anderer Sicherheitsformationen des ehemaligen Regimes. Die demokratische Opposition Serbiens gründete einen Krisenstab für die Schlüsselfunktionen im Lande in Koordination mit dem neuen Präsidenten, und die DOS-Vertreter führten im Laufe der Nacht Gespräche mit der Führungsspitze der staatlichen und öffentlichen Sicherheit. Vor dem Stadtparlament wartete eine große Menschenmenge auf den Morgen. Den ersten Morgen ohne den Diktator an der Macht.